Kostenerstattung einer Untätigkeitsklage nach Ablauf der Frist eines Leistungsträgers

BVerfG, Urteil v. 08.02.2023 - 1 BvR 311/22
Kostenerstattung einer Untätigkeitsklage nach Ablauf der Frist eines Leistungsträgers
Das BVerfG hat in seinem Urteil vom 08.02.2023 - 1 BvR 311/22 klargestellt, dass eine Untätigkeitsklage des Leistungsempfängers nach Ablauf der Frist auf Seiten des Leistungsträgers ohne nochmalige Erinnerung nicht mutwillig ist. Eine Kostenerstattung des Kläger und damit Leistungsempfängers kommt damit grundsätzlich in Betracht.
I. Sachverhalt
Mit Bescheid wurden der Beschwerdeführerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch II bewilligt. Dabei wurde jedoch ein Einkommen aus Erwerbstätigkeit in einer größeren Höhe als tatsächlich gegeben berücksichtigt. Dagegen legte die Beschwerdeführerin durch ihren Bevollmächtigten Widerspruch ein. Daraufhin erging ein Abhilfebescheid mit dem der Ausgangsbescheid aufgehoben wurde. Das Jobcenter traf hierin zudem eine Kostenentscheidung dahingehend, dass der Beschwerdeführerin die Kosten des Widerspruchsverfahrens auf Antrag erstattet würden, soweit sie notwendig gewesen, nachgewiesen und der Widerspruch erfolgreich gewesen sei. Der Bevollmächtigte der Beschwerdeführerin stellte sodann beim Jobcenter einen Antrag auf Kostenfestsetzung. Als sieben Monate später immer noch kein Kostenfestsetzungsbescheid vom Jobcenter erlassen wurde, erhob die Beschwerdeführerin durch ihren Bevollmächtigten Untätigkeitsklage bei dem zuständigen Sozialgericht mit dem Antrag, das beklagte Jobcenter zu verurteilen, über den gestellten Antrag auf Kostenfestsetzung zu entscheiden.
Als Tage später das Jobcenter dann einen Kostenfestsetzungsbescheid über die Erstattung der notwendigen Auslagen für das Widerspruchsverfahren erließ, erklärten die Beschwerdeführerin und das beklagte Jobcenter den Rechtsstreit für erledigt. Die Beschwerdeführerin beantragte, ihr die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Diesen Antrag lehnte das Sozialgericht jedoch ab. Gegen diesen Beschluss legte die Beschwerdeführerin Verfassungsbeschwerde wegen Rechtsverletzung aus Art. 3 I GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot ein.
II. Entscheidung des Sozialgerichts
Das Sozialgericht lehnte den Antrag auf Kostenerstattung mit der Begründung ab, dass die Beschwerdeführerin sich nochmals nach Fristablauf an den Leistungsträger hätte wenden müssen, bevor sie eine Untätigkeitsklage einlegen hätte dürfen. Eine Kostenerstattung sei mithin unbillig, trotz zulässiger und begründeter Untätigkeitsklage. Sie widerspräche dem Grundsatz des fairen Verfahrens. Es sei von überwiegender Bedeutung, ob die Beklagtenseite durch ihr Verhalten unter Beachtung der die Klägerseite treffenden Schadensminderungsobliegenheit sowie einer eventuellen Mutwilligkeit, Veranlassung zur Klage gegeben habe. Dies sei vorliegend auf Seiten des Leistungsträgers trotz abgelaufener Frist nicht der Fall. Ein Leistungsempfänger sei bei Untätigkeit eines Leistungsträgers grundsätzlich verpflichtet, sich vor Erhebung einer Untätigkeitsklage nochmals an diesen zu wenden und deutlich zu machen, dass eine Entscheidung über einen Antrag oder Rechtsbehelf noch ausstehe und bei weiterem Ausbleiben einer Entscheidung mit einer Untätigkeitsklage zu rechnen sei.
III. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Im Gegensatz dazu entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die angegriffene Entscheidung die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 3 I GG in seiner Ausübung als Willkürverbot verletze.
Wer die Kosten einer zulässigen und begründeten Untätigkeitsklage zu tragen hat, die sich nach Klageerhebung erledigt, richtet sich nach § 193 SGG. Entschieden wird nach billigem Ermessen aufgrund allgemeiner Grundsätze. Maßgeblich ist bei der Entscheidung der Kosten nach Erledigung der Hauptsache grundsätzlich der Ausgang des Verfahrens auf Grundlage des Sach- und Streitstandes zum Zeitpunkt der Erledigung. Wird die Klage vor Ablauf der Frist erhoben, so ist diese als unzulässig abzuweisen und eine Kostenerstattung kommt nicht in Betracht. Vorliegend war jedoch die Untätigkeitsklage zulässig und begründet. Damit kommt eine Kostenerstattung grundsätzlich in Betracht, wenn die Behörde nicht innerhalb der gesetzlichen Sperr- bzw. Wartefrist über den Antrag entscheidet und kein zureichender Grund für die Verspätung vorlag (Vgl. § 88 Abs. 1 Satz 1 SGG). Diese Frist war hier abgelaufen. Im Gesetz ist keine Pflicht erkennbar, die Behörde nach Ablauf einer Wartefrist auch ohne Anlass auf Erhebung einer Untätigkeitsklage zunächst auf die ausstehende Entscheidung über den Antrag oder Widerspruch aufmerksam zu machen, die Klageerhebung anzukündigen und nachzufragen, ob sie bald entscheide. Eine solche Pflicht ist weder aus dem Wortlaut des § 88 SGG noch dem des § 193 SGG ersichtlich.
Die Klägerseite treffe keine Obliegenheit, die Beklagtenseite vor vermeidbaren Schäden zu bewahren.
Es liegt kein Verstoß gegen den Grundsatz des Treu und Glauben nach § 242 BGB vor, wenn eine Erhebung der Klage nach Ablauf der Wartefrist erfolgt, da die Untätigkeitsklage sowieso erst nach Ablauf einer sechs- bzw. dreimonatigen Frist zulässig erhoben werden kann. Damit hat der Gesetzgeber selbst geregelt, wie lange die Betroffenen zuwarten müssen.
Der Staat muss die gesetzlichen Fristen und etwaige Rechtsfolgen ebenso kennen und beachten wie Bürgerinnen und Bürger.
IV. Fazit
So wie sich Bürgerinnen und Bürger die Versäumung einer Frist regelmäßig strikt entgegenhalten lassen müssen, darf auch der Staat grundsätzlich nicht darauf vertrauen, von Bürgerinnen und Bürgern auf den Ablauf einer gesetzlichen Frist erneut hingewiesen zu werden und eine außergesetzliche Nachfrist zu erhalten.
Dennoch kann sich aus dem Gebot der Rücksichtnahme unter besonderen Umständen eine Pflicht ergeben, die Behörde vor Erhebung einer zulässigen und begründeten Untätigkeitsklage an den Fristablauf zu erinnern. Es ist daher empfehlenswert, einen Anwalt zu Rate zu ziehen, ob ein solch besonderer Umstand in Ihrem speziellen Fall vorliegt oder nicht. Damit sind Sie auf der sicheren Seite und können Ihre nächsten Schritte planen. Zur Beurteilung Ihres Falles stehen wir Ihnen gerne jederzeit zur Verfügung.
Jennifer Wäschle
Juristische Mitarbeiterin
Ulrike Böhm-Rößler
Fachanwältin für Medizinrecht
Fachanwältin für Arbeitsrecht
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